Über die Predella im Altar der Schlosskapelle

1929 veröffentlichte Wilhelm Hausenstein nachfolgenden Aufsatz, der sich vorwiegend mit der Predella des Altars in Schloss Blutenburg befasst.

Blutenburg
oder die vier Evangelisten

Draußen vor München, im Westen, hinter dem Schlosspark von Nymphenburg und der Kolonie Obermenzing, liegt Kloster Blutenburg.

Es gibt zwei rechte Tage, die Stätte aufzusuchen: Aschermittwoch und Allerheiligen. Ich habe mir eine Gewohnheit daraus gemacht, die Tage einzuhalten, wenigstens ungefähr. Dort, gerade dort stehen sie mir im Gleichgewicht, und von den zwei Spaziergängen nach Blutenburg im Vorfrühling und im Spätherbst empfängt mein Jahr einen Teil seiner Ordnung.

An Allerheiligen denke ich, der Herbst von Blutenburg sei schöner: der Herbst, der die Welt in feuchte Erde, unter feuchtem braunem Laub begräbt, der Hoffnungen und Wünsche still macht, indem er sie sanft tötet; der Schmerzen lindert, indem er sie verewigt und in den Weihrauchgeruch der welkenden Natur hüllt. Am Aschermittwoch scheint mir der Vorfrühling schöner, wiewohl er auf die Sehnsucht, die er keinem macht, die Last einer himmlischen Schwermut liegt – denn für den Ältesten ist auch der Frühling nicht mehr die Jahreszeit der fliegenden Erwartungen.
Ich liebe, den Weg von Pasing her zu nehmen, das bläuliche und weiße Hochgebirge, das den südlichen Rand der oberbayerischen Ebene säumt, im Rücken. Wie ist der Weg mir vertraut! Dort an der Biegung lag einmal ein toter Hund. Es ist ein schöner Wolf gewesen. Ein Wagen hatte ihn mit eisenbeschlagenen Rädern überfahren. Der Hund lag starr, nur in den brechenden Augen rührte sich noch eine äußerste Bewegung des Lebens.

Der Weg führt an der uralten Pippinger Kirche vorbei.

 

 
St. Wolfgang in Pipping

Den lieben Chor der kleinen Landkirche weiß ich auswendig. Es kann mir irgendwo, mitten im Tage, weit weg von ihm, geschehen, dass ich mit den inneren Augen die ländlich-lieblich geschnittene Gotik seiner Fenster sehe.

Dann ist nach wenigen Minuten Blutenburg da. Durch laublose Bäume scheinen die gekalkten Mauern mit den wehrhaften Ecktürmen und den schrägen Strebepfeilern. Das Kloster hat das Ansehen einer geistlichen Festung.

Ein großes Haus mit hohem Dach ragt über die Mauer auf. Rüstig ist es, bürgerlich und gemütlich. Dahinter rundet und spitzt sich die barocke Zwiebel des Kirchturms in den blassen Himmel, eine schwäbische Zwiebel, nach Augsburger Art; Elias Holl, der Augsburger Meister, hat derlei Zwiebeln auf die Kirchtürme gesetzt. Um die Klostermauer herum fließt die Würm, die aus dem Starnberger See kommt. Das ungewisse Blau des Himmels beschaut sich in ihr, verstärkt sich im Widerschein. Die Sonne schwimmt hinter einem dünnen Gewebe weißer Nebel und fasst die Welt, die sich öffnet, in das Gebinde einer sanften Vergoldung. Gegen Westen ist der Himmel klar; dort ist er durchaus blau. Es ist ein tiefes und stumpfes Blau. Die feuchten Äcker spiegeln es; aus schweren nassen Krumen der oberbayerischen Moorerde, die dunkel ist wie Schokolade, kommt das Blau zurück.

Dies ist der Februar, der März vor Blutenburg. Ich kenne ich. Sein vieldeutiges Licht hat einmal den Anfang eines Unglücks in meinem Leben beschienen – damals, vor zwanzig Jahren. Frühling und Herbst. Aschermittwoch und Allerheiligen.

Ich gehe um die Kante der Mauer. Man betritt das Kloster von Norden. Dort ist Schatten. Noch liegt dort eine nasse Schneedecke auf dem Boden des Vorgartens. Darüber erhebt sich die Blutenburger Kirche, rosa angestrichen und moosgrün und weiß, mit bäuerlich gezeichneten Spitzbogen. Das bayerische Rautenwappen in den Farben Mariae fehlt nich; weiß und blau.

Die Kirche ist berühmt um seiner schönen Muttergottes willen. Wahrhaftig, sie ist schön. Aber heute will mir scheinen, das inbrünstige Mittelalter sei an ihr matt geworden; die Muttergottes aus bemaltem Holz habe die Kühle der Vollkommenheit – jener Vollkommenheit, die verstimmt, weil sie zu keiner Sehnsucht mehr spricht. Mir scheint, das inbrünstige Mittelalter sei an dieser Muttergottes gleichmütig geworden, man habe das Bild mit ruhigem Herzen, mit bloßer Kunst geschnitzt, gemalt und hinaufgestellt.

Darum bin ich ein wenig traurig und suche umher. Es verlangt mich danach, festgehalten zu werden. Ich möchte überwunden sein von einem zwingenden Bild des Göttlichen; ein Bild möchte ich sehen, mit dem ein frommer Sinn mir das Herz aufrührt und zerlöst und wieder fest macht.

Ich suche das Bild.

Die berühmte Madonna ist es nicht – obwohl ich weiß, dass die treuen Augen der alten Schwestern tausendmal mit unveränderter Andacht zu ihr hinaufgeschaut haben. Und man müsste ja auch so viel Frömmigkeit in sich haben, dass es auf die Beschaffenheit des Bildes gar nicht ankäme – ich weiß, ich weiß… Aber nun bin ich leider, wie ich bin: abhängig vom Bilde. So suche ich. Ist es das schöne Bild des Hochaltars? Das Gemälde, auf dem Gottvater den toten nackten Heiland in den hegenden Armen hält? Ist es das Bild des toten Herrn, dessen wunder und gefrorener Leib gebogen hängt wie die Mondsichel?
Es ist die unberühmte und unscheinbare Predella unter dem Hauptbild. Sie zeigt die vier Evangelisten.

 

 

Die Predella im Altar der Schlosskapelle
(Bild ist aus 4 Einzelbildern wieder zusammengesetzt)

 

Von weitem schaue ich zuerst, dann trete ich näher, ersteige von der Seite die Stufen des Altars und lehne, nicht ohne Zittern, fast wie ein Kirchendieb, die Ellenbogen, die zusammengelegten Hände auf die Mensa. Die guten alten Schwestern haben ein weißes Wachstuch daraufgebreitet, damit die Decke geschont werde.

Dies sind Matthäus, Johannes, Lukas, Markus. In Ordnung sind sie nebeneinander von links nach rechts. Nur ihre gemalten Büsten, nicht die ganzen Figuren; die würden keinen Platz gefunden haben auf dem langen, aber niedrigen Malbrett.

Ich habe die Vier oft gesehen. Ich habe nie gesehen, dass sie so, wie hier, jeder den eigenen Genius im Arm halten.

 

 
Hl. Matthäus

Denn es liegt dem heiligen Matthäus ein winziger Engel im rechten Arm. Die rechte Hand greift über das aufgeschlagene Evangelium hin. Wie zum Schlaf geneigt liegt der winzige Engel in der Mulde des Armes; zwar mit hochaufgerekten Flügeln, deren weiche Innenseite teerosengelber und rosaroter Flaum ist! Man möchte das winzige Engelchen, diese Puppe von einem Engelchen streicheln und ehrfürchtig den Flaum der Flügel liebkosen. Der heilige Matthäus ist der gute Vater des Engelchens.

 

 
Hl. Johannes

Neben dem Alten im grauen Vollbart schreibt Johannes sein Evangelium, dies Evangelium voll von Hintergründen. Er ist ein blonder Jüngling, mit sorgsam gekräuselten Haaren, elegant, mit bartlosen, aber kräftigen Wangen. Er trägt einen vornehmen Rock aus olivgrünem Tuch mit modischen brokatenen Zieraten. Sein gesenkter Blick ist voll von wählerischem Ernst. Johannes ist ein Edelmann; er ist ein Troubadour der Theologie, er ist ein Minnesänger des Heilands. Er schreibt mit vollendeter Sammlung. Und jetzt das Wunderbarste, das was mein Herz überwältigt: er hat den Adler im rechten, schreibenden Arm, im Winkel des schreibenden Arms, und er Adler, schrecklich aufgeregt, mit hochaufgeschlagenen Adlerflügeln, weit geöffnetem Schnabel, spricht in das Evangelium hinein, redet hinein in den Kiel der schreibenden Feder, diktiert der Feder die Worte des Evangeliums. O nein, er spricht die Worte nicht; er schreit sie mit der Stimme des Adlers; aus dem geöffneten und blutigen Schnabel kommen die Worte laut, scharf, leidenschaftlich. Über dem rufenden Adlerkopf ist der Kopf des Evangelisten freilich ganz ruhig, ganz gewiss.

 

 
Hl. Lukas

Lukas daneben hat den Kopf und die Brust eines kräftigen Bürgers. Er ist säuberlich rasiert wie ein Ratsherr am Sonntag zum Kirchgang. Er würde einen starken Bart haben; sein rasiertes Kinn ist blau. Der geflügelte Stier, der sein guter Geist ist, sitzt auf seinem Schoß und legt ein rührend verzeichnetes maul auf das offene Buch des Evangelisten, der sein Herr zu sein scheint, wie sonst ein Bürger der strenge und gute Herr seines Hundes ist.

 

 

 

 
Hl. Markus

Markus endlich, der letzte der Rechten, hält auf den Knien und im Arm den Flügellöwen. Der gotische Maler in der Provinz konnte den Löwen noch weniger malen als den Stier. Der Löwe zumal geriet ihm zum Schoßhund, der mit eifrig geöffneter Schnauze, mit rötlich vorhangender Zunge beharrlich hockend aufmerkt. Markus ist ein einsamer Junggeselle, ein bisschen verdrießlich. Er ist sehr ernst. Seine Stirn steht in schweren Falten. Seine Gedanken sind scharf wie Schmerzen.

 

So stehen die gemalten Büsten der vier Evangelisten da. Zwischen ihren Bildnissen sind goldene Bäume in den goldenen Grund hineingezeichnet.
Diese Vier sind sozusagen Schriftsteller gewesen. Sie sind Patriarchen auch meines Gewerbes. Ich lege den Kopf für einige Sekunden auf das weiße Wachstuch, auf den Rand, und ich weiß bis tief ins Herz hinab, dass ich nichts bin. Wer einen kleinen Engel in der Bucht des schreibenden Armes hielte oder einen Adler oder einen Flügelstier oder Flügellöwen… Wer so den guten Geist, den mächtigen Geist, den sanften Geist am schreibenden und blätternden Arm spürte, als einen Segen, als einen Haussegen für das Handwerk des Schreibens!
Es ist ganz still in der kleinen Kirche, über der die reinlich gemalten gotischen Rippen dauerhaft sich spannen. Kein Mensch ist da, nicht einmal eine betende Schwester in einer jener Hauben aus Schwarz und Weiß, die wie die Gewölbe von Kathedralen sind. Die Zeichen bewegen mich wie je die höchste Kunst, die ich sah. Da ist ein doppeltes Kreuz, gelb auf rotem Grund. Dies Zeichen rührt mich wie die linkischen Symbole der ersten Christen. Da ist eine bourbonische Lilie, Weiß und Blau. nie hat eine lebende Blume, nie eine schwärmende Kunst meinem Herzen mehr angetan.
Ich gehe hinaus. Es ist warm unter der Sonne, ob sie auch matt ist wie eine Genesende. Es ist kalt in den Gebeinen; nun erst weiß ich, wie kalt vom Winter her die Kirchensteine gewesen sind. Die Schwestern schaffen in ihrer Landwirtschaft. Es macht ihnen nichts, hinter blauer Schürze den riechenden Mist zu hantieren. Ein schlafender Knecht hockt an der Südwand der Kirche auf der Bank wie ein Gevatter vom Pieter Bruegel. Die Spatzen lärmen in ihrer ordinären Art. Man kann den ersten Buchfink schlagen hören und die erste Amsel ihre Stimme proben, die aus schluchzender Not und überfließender Wonne gemischt ist. Es fehlen nur die Stare mit dem seidenen Schwarzblau, die köstlichen, komischen Schwätzer.
Jetzt verlasse ich den fest umhegten Klosterhof. Die große alte Türe geht leise knackend ins Schloss. Ich bin draußen, auf der Schattenseite, im nassen Schnee. Über den Augen, in den Schläfen sitzt ein Schmerz, den ich kenne. Wie ein eiskühler Ring liegt es mir um den Hinterkopf.

 

Quelle

aus:
Wilhelm Hausenstein: Die Welt um München.
Knorr & Hirth GmbH, München 1929. Seiten 190 – 195.

Weitere interessante Informationen über die Schlosskapelle finden Sie im Buch
Wolfgang Vogelsgesang (Hrsg): Blutenburg – Die Schlosskapelle. München 1994, 180 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Erasmus Grasser-Verlag. ISBN 3-925967-26-5. Preis: 30,50 Euro

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